Die Welle im Wald
Tony Cragg, Discussion, 2005
Was kann Kunst?
Ich sehe eine Welle im Wald. Ich reibe mir die Augen, es ändert sich nichts, die Welle bleibt. Eigentlich sind es viele Wellen nebeneinander. Etwas hilflos denke ich an meine Frage „Was kann Kunst?“.
Skulpturenpark Waldfrieden, Discussion 2005
Im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal steht das Objekt. Durch die braune Farbe der Oberfläche fügt es sich in die Umgebung der Bäume und des Herbstlaubs unauffällig ein.
Ein ähnliches Objekt kann man entdecken, wenn man in München am ehemaligen Hochbunker in Schwabing vorbeispaziert. Allerdings ist es hier in leuchtend roter Farbe sehr auffallend. Auf den ersten Blick kann ich auch hier damit nichts anfangen.
Betrachtung im Wald
Also nehme ich mir die Zeit, im Wald genauer zu schauen. Ich setze mich auf einen Baumstamm dem Objekt aus Bronze gegenüber und gebe meinen Gedanken einen kleinen Impuls: „Los, sammelt mal Gedankenverbindungen mit Blick auf die Wellen.“ Blitzschnell sprudelt es: Das sieht aus wie Zeichnungen aus Mathe- und Physikheften. Stimmt ja, eine Störung oder Schwingung breitet sich im Raum aus, zieht Kreise wie der Stein, der ins Wasser fällt. Schwingungen sehe ich auch bei einer la-Ola-Welle. Eigentlich bewegt sich dann jeder nur einmal. Es gelingt dabei oft, eine eindrucksvolle Welle durch eine große Menschenmenge laufen zu lassen.
Schwingungen
Schwingungen kann ich auch mit anderen Sinnen aufnehmen, unsere Ohren nehmen zum Beispiel Töne wahr. Saiten einer Geige oder eines Kontrabasses schwingen. Auch einem Glas kann jeder mit einem feuchten Finger Klänge entlocken – es schwingt. Wir sagen sogar, die Stimmung war super! Waren das Schwingungen zwischen den Menschen? Es gibt neuronale Schwingungen, unser Gehirn kann schwingen? Sie finden viele weitere Beispiele.
Discussion entdeckt
Ich stehe auf und gehe mehrmals um das Objekt herum. Dabei versuche ich aus unterschiedlichen Perspektiven die Details zu entdecken. Die Überraschung ist: Ich sehe auf den gegenüberliegenden Seiten ausdrucksstarke Gesichter. Auf der einen Seite hart und verschlossen, auf der gegenüberliegenden Seite lächelnd und entspannt. Die Arbeit erscheint so, als wären viele dünne Scheiben aneinander gesetzt, immer um ein kleines Stück verschoben.
Tony Cragg nennt seine Arbeit Discussion. Das lateinische Wort bedeutet `discutere‘ – eine Sache untersuchen, besprechen, erwägen, erörtern.
Tony Cragg, Dancing Column, 2008
Reflektion
Ich nehme den Titel und meine Entdeckung der veränderten Gesichter und versuche, es zusammenzufügen. Was bedeutet Diskussion? Diskussionen können sehr emotional und kontrovers sein. Alle beteiligen sich mit ihrem Denken, ihren Gefühlen, es wird laut und kann versöhnlich werden. Es wird gelacht und geflucht. Das Ziel ist ein für alle akzeptabler Kompromiss. In diesem Prozess ist viel Bewegung, es gibt Zustimmung und Widerspruch.
Wenn Ich jetzt wieder auf die Langseite mit den Wellen schaue, das Auf und Ab beobachtet, „sehe“ ich den Verlauf der Diskussion. Es ist so komplex. Es wirkt übermächtig, was zwischen dem Beginn und dem Ende der Diskussion passiert sein muss.
Tony Cragg
Cragg in München
Gehen Sie in Gedanken nochmal mit zum roten Objekt vor dem Bunker in der Stadt. 40 Bunker dieser Art entstanden zu Beginn der 1940er Jahre. Heute wohnen hier Menschen in schönen Wohnungen mit weitem Blick. Ursprünglich sollten hier bis zu 1200 Menschen Schutz finden. Langsam wird mir bewusst, wie viele Gedanken und Diskussionen, Gespräche, Widersprüche und Versöhnungen zwischen diesen Nutzungen liegen. Welche Welten liegen dazwischen? Wieviel haben wir, hat unsere Gesellschaft seit dieser Zeit erlebt, gestaltet und verändern können?
Ein knallroter Aufruf mitten in der Stadt! Wie wichtig ist es, im Gespräch zu bleiben und zu diskutieren. Wie schön ist es, wenn wir dann Veränderung erleben bei uns und unseren Gesprächspartner*innen.
Was kann Kunst?
Ich freue mich über Ihre Gedanken.
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